Entgegen meiner Befürchtung, keinen freien Tisch zu finden, war es hier sehr leer. Feiertag. Kurz nach Mittag. Im Winter. Schon beim Betreten des Cafes empfing mich eine spanische Atmosphäre. Gemütliche Einrichtung. Ein Platz am Fenster.
Jedes Mal, wenn ich in einer fremden Stadt im Cafe sitze, stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn ich hier wohnte.
Eigenartig – ich weiß.
So stelle ich mir mögliche Gespräche mit meiner Freundin vor. Ihr würde es hier auch gefallen. Also nehme ich mir vor, sie anzurufen, wenn ich aus dem Cafe raus bin. Nach ihrem Wohlergehen fragen. Und ihr sagen, dass ich sie lieb habe. Einfach so. Tat ich schon lange nicht mehr.
Ja, das hier könnte mein Lieblingscafe werden.
Wir sitzen am Fenster. Freie Sicht auf die leeren Straßen. Es wird erzählt. Ununterbrochen. Schon seit mehreren Tagen. Ein Wiedersehen nach Jahrzehnten, so ist das dann eben.
Ein Glas wird verschüttet, die Mutter schimpft mit dem Kind. Der Vater mit der Mutter. Die Kleinen erhöhen die Lautstärke des Spiels am Handy. Es ist laut. Hektisch. Und: Es zehrt an den Nerven. An meinen Nerven. So kurz vor Jahreswechsel. Zu der Zeit, in der wir in uns kehren sollten, Erlebtes Revue passieren lassen, zur Ruhe kommen sollten. Neue Ziele stecken, Pläne ausarbeiten.
Aber nicht dieses Jahr. Dieses Jahr ist keine Zeit dafür.
Ein Auto fährt vorbei. Münchener Kennzeichen. Der Fahrer nahm eine lange Strecke auf sich bis hierher, denke ich. Und nehme einen Schluck vom Milchkaffee. Schmeckt mehr nach Kaffee als nach Milch. Ungewöhnlich. Liegt wohl an meinem verstimmten Magen.
Ein Telefon klingelt. V. ‚Sie soll sich auf den Weg hierher machen. Sofort! Ihre Mutter liegt im Krankenhaus.‘, wird mit wütender Stimme befohlen. – ‚Aber das weiß sie schon längst.‘ – ‚Aber warum ist sie dann nicht hier?‘ Wir alle kennen die Antwort. ‚Es ist ihr nicht wichtig.‘
Wie hätte es so weit kommen können?
Wo es doch hierbei um alles geht. Um Leben. Um Tod. Um die wahrscheinlich letzten Tage. Das weiß sie. Und es ist ihr egal. Aber: mir nicht. So gar nicht. Es macht mich wütend. Und traurig. Nachdenklich. So sehr, dass Tränen kommen. Unkontrollierbar. Nicht steuerbar. Dieses Gefühlschaos ist einfach überwältigend.
Am anderen Ende des Tisches wird weiter diskutiert. Belanglos.
Draußen reißt der Wind einem Passanten fast den Schirm aus der Hand. Mit eiserner Stärke hält er daran fest. Dick eingepackt. Mütze, Schal und Handschuhe. Langer Mantel. Es regnet nicht. Es schneit. Heftig. Ein Schneesturm. Wie unsere Gefühle. Als wüsste der Himmel das. Warum hält er so sehr am Schirm fest, frage ich mich. Wo ein Schirm offensichtlich so fehl am Platz scheint.
Um mich herum ist es still geworden. Eine Sekunde des Gedenkens. Vielleicht auch eine Schweigeminute. ‚Wie geht es ihr denn?‘, fragt Sie ihn. ‚Nicht gut.‘, wird kurz geantwortet, um schnell wieder das Thema wechseln zu können. Und ich sehe ihn an. Eindringlich. Fast flehend. Du musst ihr mehr sagen. Du musst es lauter sagen. Sonst könnte es zu spät sein. Lass sie sich verabschieden. Mir ist schier unbegreiflich, wie sich vor diesem Thema, vor der Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen gewehrt wird.
Es wird gefeiert. Geburtstage. Weihnachten. Die Silvester-Vorbereitungen laufen. ‚Ihr seid doch alle dabei?‘. Freudiges Nicken. ‚Wie könnt ihr in dieser Situation heile Welt spielen? Mir ist unerklärlich, dass sich nicht gekümmert wird!‘ – ‚Das Leben geht weiter.‘ – ‚Ja. Für dich.‘
Und: ich begreife.
Denn ich habe erlebt. All‘ das. Schon einmal. Ich weiß, wie es ist. Wie es war. Und was passieren wird. Als ich Sie da liegen sah. Weil ich auch Ihn so liegen sah. Vielleicht ist es deshalb, dass ich euch so sehr dränge nicht zu verdrängen. Die verbleibende Zeit wertzuschätzen. Euch zu schützen. Euch davor bewahren? Unmöglich.
Nächtelanges Warten in Krankenhauszimmern. Gebete auf dem Flur. Herzrasen bei Ertönen des Monitors. Stille. Ihr leises Schluchzen aus dem verschlossenen Badezimmer. Du am Fenster wartend. ‚Möchten sie noch eine Kanne Tee?‘, der Krankenpfleger. Denn das war alles, was wir tun konnten. Warten. Da sein. Für ihn. Mit ihm. So sehr ich alles dafür gegeben hätte, mehr tun zu können. Ein kleines bisschen mehr. Rot umrandete Augen. Jeder weiß es. Keiner sagt etwas.
Ich bin für dich da. Ich bin hier. Leere Blicke, die sich aber an alles erinnern. Und die mich sehen. Tränen unterdrückend. Aber lächelnd. Wir wissen alle, was als Nächstes kommt. Und wir können nichts tun.
‚Geh noch nicht! Bleib noch hier!‘.
Egoistisch – ich weiß.
Ich bin nicht bereit dafür. Auch dieses Mal nicht.
Die spanische Musik im Hintergrund, ganz leise, holt mich zurück und ich nehme den letzten Schluck Kaffee. Ich atme tief ein und aus; erhebe die Stimme: ‚Geh zu ihr und verabschiede dich. Zeige Dankbarkeit. Bitte um Vergebung.‘ Meine letzten Worte und so verlasse ich den Tisch.
Auf dem Weg zur Tür liegt das Glas zerbrochen auf dem Boden.
An der Ampel lässt der Passant den kaputten Regenschirm los.
Sie wird nicht gehen, ich weiß.
Wenn das Leben dich Dankbarkeit lehrt. Momente – wie diese.
Gedankengänge zu Ende vergangenen Jahres. Wohl kein gutes Ende. Kein guter Zeitpunkt. Oder: das beste Ende bisher. So schmerzhaft, wie es war. So sehr besann ich mich in diesem Moment auf das Wichtige. Zu mir selbst. Zum innersten Kern. Allein. Ohne Alles. Zu dem, was im Leben wirklich zählt. Zu Liebe. Und Dankbarkeit. Zu Reinheit. Mit sich selbst. Und seinen Geliebten.
Momente wie diese, die dir zeigen, dass alles endlich ist.
Das Leben ist endlich. Mein Leben ist endlich. Dein Leben ist endlich.
Zu diesem Jahreswechsel gibt es keinen Wunsch nach: höher, schneller, weiter! Kein Status. Kein Reichtum.
Vorsätze für das neue Jahr? Gibt es dieses Mal nicht. Wer weiß, ob es ein Morgen geben wird? Und wenn: ob es ein Morgen mit dir geben wird? Oder mit ihr? Oder ihm?
Deshalb wünsche ich nur eins: mehr Momente, die mir zeigen, wie dankbar ich sein soll. Dankbar für all das Gute, was ich habe. Und noch mehr: dankbar für all das Schlechte, was ich nicht habe.
Ein Moment kann das Leben verändern. Wichtig ist: die eigene Sicht darauf. Und immer: Dankbarkeit. Denn dieses Gefühl – so unbedeutend es klingen mag, so bedeutungsvoll ist diese Haltung.
Dankbarkeit verändert das Leben.
Also:
Zeigt mehr Dankbarkeit.
Zeigt mehr Liebe.
Das Leben ist endlich.
Bevor es zu spät ist.
Wofür warst Du das letzte Mal dankbar? So richtig meine ich, richtig bewusst und intensiv. Gab es einen Auslöser, der dich für dieses Gefühl sensibilisierte? Hältst Du die Momente der Dankbarkeit fest?
Liebe Juliet,
was für ein schöner und auch zum Nachdenken anregender Beitrag! Ich liebe Texte, die unter die Haut gehen, und dieser hier gehört definitiv dazu. Du hast so viele Emotionen rüber bringen können, Wahnsinn. Allerdings klingt es so, als hättest du ein zweites Mal jemanden verloren, der dir wichtig war. Und wenn ich das richtig verstanden habe, tut mir das sehr leid für dich. Fühl dich umarmt!
Ich finde es aber super, wie bewusst du dir bist, dass es uns gut geht. Dass wir so vieles haben, dass wir es nicht einmal bemerken. Dass wir uns lieber über die kleinen Dinge aufregen, die so belanglos sind, dass es schon fast lustig ist. Aber man merkt das meist erst, wenn „es zu spät ist“. Aber besser man merkt es, als wenn man es sein ganzes Leben lang gar nicht merkt. Denn ich finde, wenn du dir dessen bewusst bist, nimmst du das ganze Leben anders wahr. Du ärgerst dich nicht mehr so viel, sondern siehst die guten Dinge.
Meine Großeltern konnten das gut, denn bei ihnen gab es tatsächlich eine Zeit, in der es ihnen sehr schlecht ging. Und gerade merke ich, dass ich in letzter Zeit auch nicht dankbar war, sondern nur die schlechten Dinge gesehen habe. Also vielen Dank, dass du mich auf den Boden der Tatsachen zurück geholt hast!
Hab ein schönes Wochenende, liebe Juliet!
Maj-Britt
http://www.dailymaybe.de
Habe vielen Dank für dein Mitgefühl & die Umarmung, May-Britt! Du hast es richtig verstanden, vielleicht kommt bald auch mehr zu diesem Thema…
Du hast sehr recht. Wir genießen so viel mehr, wenn wir uns bewusst sind, dass wir nur dieses eine Leben haben. Sind vorsichtiger im Umgang mit unseren Liebsten. Und sind sehr viel glücklicher und ausgeglichener, wenn wir uns auf das Gute konzentrieren. Ich wünsche dir, dass die ’schlechten Dinge‘, von denen Du schreibst, vergangen sind!
Und ja! Von unseren Älteren können wir soviel lernen. Sie haben soviel erlebt und freuen sich, wenn sie auf offene Ohren stoßen. Jede Gelegenheit nutzen würde ich raten.
Liebste Grüße an dich!
WOW
was für Zeilen, schon mal überlegt ein Buch zu schreiben?
Ich selbst war zu letzt Dankbar, als in meinem Briefkasten eine Mega Überraschung lag, bis heute weiß ich leider nicht von wem.
Dann war ich dankbar, das meine beste Freundin da war.
Das ein Gedanke den ich zur Tat umsetzte genau das richtige war. Mehr dazu kannst du wenn du magst, auf meinem Blog entdecken.
Ich finde deinen Blog sehr interessant, gerade weil selten Menschen so tiefsinnig schreiben können. Danke 🙂
Liebe Grüße
Nicole
ps.: Ich erwähne diesen Beitrag am Mittwoch beim Bloggerwelt Beitrag :).
Liebe Nicole,
es freut mich, wenn Menschen dankbar sind. Und dies auch selbst wahrnehmen. Eine Überraschung? Ohne zu wissen, von wem? Klingt aufregend! Anderen eine Freude bereiten ist toll. Denn alles im Leben kommt zurück…
Vielen, vielen Dank für das Erwähnen – das ehrt mich! <3
Ein fesselnder Text! Du hast eine angenehme Art zu schreiben. 🙂
So richtig, richtig dankbar war ich zuletzt für meinen besten Freund der mich am Abend des ersten Weihnachtsfeiertages zu einem Waldspaziergang ‚entführte‘, da er genau weiß wie furchtbar ich Weihnachten finde. Aus Gründen.
Grüßchen!
Kann ich nachvollziehen. Jeder hat zu kämpfen. Umso schöner ist es, Menschen zu haben, denen Du etwas bedeutest. Und die dann für dich da sind. Und das hast Du!
Liebst :-*
Sehr schön geschrieben. Sehr bewegend. Lieben Gruß
Super schön geschrieben, ich mag deinen Schreibstil total gerne 🙂 So tiefsinnige Texte mag ich total gerne!
Liebe Grüße
Carry
Hallo, wirklich sehr schön geschriebener Beitrag. Ich habe erst geglaubt einen ausschnitt aus einem Buch zu lesen, so tiefsinnig und vom Schreibstil fesselnd.
Ich versuche öfters im Alltag Dankbar zu sein, wenn ich an meine Kinder denke, mit meinem Mann telefoniere, das sind so Augenblicke an denen ich dankbar bin.
Liebe Grüße Bo
Wow…
Ich habe Gänsehaut! Wie schön du schreibst! Du könntest Autorin werden! Schonmal versucht?
Dankbarkeit ist so wichtig, da hast du wohl recht… Fühl dich gedrückt <3
Danke für deine Worte, Leila! Schön, wenn das, was man tut, wertgeschätzt wird. Ein Traum schlummert in mir ?
Das hast du wirklich toll geschrieben. Ich arbeite in der Pflege und ich erlebe es immer wieder das es manchen Angehörigen egal ist wie es dem Patient geht. Ich finde so etwas auch immer sehr traurig.
LG Jasmin
Für mich ist dieses Verhalten so unverständlich…
Ein sehr fesselnder Beitrag. Ich mag deine Art zu schreiben sehr gerne. Dankbarkeit ist ein so wichtiges Thema, das eigentlich selbstverständlich sein sollte. Ab und an braucht wohl jeder mal einen kleinen Tritt um sich wieder auf das Wesentliche zu besinnen!
Alles Liebe,
Verena
whoismocca.com